B21F6BB4-1C5E-4341-9402-72115F03EA26 28. Juni 2022

Hat die 15-Minuten-Stadt eine reale und zukunftsfähige Chance?

Eine Stadt erfüllt keinen Selbstzweck. Sie ist ein großes Ökosystem, das Menschen erlaubt, durch ein entsprechendes System von Services und Angeboten Grundbedürfnisse des täglichen Lebens zu befriedigen. Seit der Industrialisierung war das Arbeiten der größte Treiber für das Wachsen unserer Städte. Aus dieser – kulturellen und sozialen – Heterogenität entstanden produktive, einzigartige und erfolgreiche Städte. Diese Urbanisierung ging Jahrzehnte lang gut. Nun kommt es aus vielerlei Faktoren zum Umdenken. In der Stadt der Zukunft geht es um eine Balance zwischen Ökologie, Ökonomie und sozialer Gerechtigkeit. Wir müssen uns mit echtem Bewusstsein vor Augen führen, dass diese drei Einflüsse eng miteinander verzahnt und nicht unabhängig voneinander zu lösen sind.

Das Konzept der 15-Minuten-Stadt bietet viele Lösungsansätze der Stadtgestaltung, die in einigen Metropolen weltweit bereits erfolgreich umgesetzt und gelebt werden. Zugleich folgen viele deutsche Städte in der Stadt- und Verkehrsplanung dem Alternativmodell zur autogerechten Stadt und setzen vermehrt auf Wegeverkürzung statt auf Wegeausbau. Beflügelt wurde die Idee – neben dem Trend zum Home Office insbesondere durch die Corona-Pandemie, in der viele Städte durch Abriegelung nicht mehr als lebenswert empfunden wurden und damit den eigenen Stadtvierteln mehr Relevanz eingeräumt wurde. In dieser Pandemie haben wir gespürt, wie wichtig die Infrastruktur in direkter Nähe ist und was uns im urbanen Umfeld fehlt, beispielsweise Grünflächen.

 

Die Stadt der kurzen Wege rückt den Menschen und seine Lebensqualität in den Fokus

In einer 15-Minuten-Stadt sollen alle Einrichtungen des täglichen Lebens, ausgehend vom Wohnort, zu Fuß oder mit dem Fahrrad in 15 Minuten erreicht werden können. Das entspricht etwa einem Kilometer Fußweg und circa 3 bis 4 Kilometer Radweg. Geprägt wurde das Konzept durch den französischen Universitätsprofessor und Smart-City-Experten Carlos Moreno, der weltweit zahlreiche Städte berät. Dabei ist es nicht wichtig, sagt er, ob es exakt 10, 15 oder 20 Minuten sind. Dennoch ist ein gewisser Umkreis – auf die örtlichen und individuellen Gegebenheiten ausgelegt – auschlaggebend, damit er uns motiviert, draußen zu sein. Erst dann wollen wir mehr erkunden – auch, weil wir in der Lage sind, viele Bedürfnisse zu befriedigen. Durch das Zusammenrücken von Arbeiten, Wohnen, Einkauf, Sozialem und Freizeit werden einzelne Stadtteile wieder zu Versorgungszentren, sie funktionieren wie eigene kleine Städte und sind dezentral über die Stadt verstreut. Durch diese neu entstandene Nähe sinkt der Mobilitätsbedarf massiv, aus Verkehrsraum wird Lebensraum. Straßen und Räume können multifunktional genutzt werden und werden zu Orten der Begegnung, Partizipation und Erholung. Kurze Wege bringen uns mehr Zeit für andere Aktivitäten – auch innerhalb einer Stadt – und schaffen neugewonnene Lebensqualität.

 

Das Ziel: Die Stadt für viel mehr Aktivitäten öffnen

Auch wenn die Stadtplanung seit mehreren Jahrzehnten auf nachhaltige Modelle der Funktions-mischung setzt, sind unsere Städte stark durch die fast 100 Jahre gelebte Trennung von Wohnung, Versorgung und Arbeit gekennzeichnet.

Keine Realisierbarkeit ohne ein Zusammenspiel und zivilgesellschaftliches Engagement

Jede Stadt hat eine Vielzahl von Akteurinnen und Akteuren. Ihre Übereinstimmung ist die wichtigste Voraussetzung zur Realisierung des Konzeptes. Dabei ist es wesentlich, dass das Leitbild als Transformationsprozess verstanden wird und alle Beteiligten Hand in Hand zusammenarbeiten. Stadt- und Verkehrsplanung müssen beispielsweise zusammen gedacht werden, die Innenstadtentwicklung muss eng mit der Wohnentwicklung verbunden werden. Für diese Transformation braucht es ein gemeinsames Verständnis, Durchhaltevermögen und Mut zur Veränderung. Das ist besonders im städtisch-politischen Kontext nicht immer gegeben und schwer umsetzbar. Kaum kommt es nach der Wahl zu Veränderungen in der städtischen Spitze, gibt es häufig den Drang nach Veränderung. Schließlich ist meist in den Augen anderer in der Vergangenheit nicht immer alles glatt gelaufen. Die fehlende Kontinuität im Transformationsprozess, der eine gewisse Zeit braucht, ist hemmend

Dabei sind es bereits kleine, aber prominente Akzente und Impulse, die eine polyzentrische Stadt mit ihrer Multifunktionalität und dem Zugewinn an Lebensqualität erfahrbar und lebendig machen. Um Möglichkeiten erlebbar zu machen, braucht es neben Engagement auch eine gewisse Finanz- und Kapitalausstattung, die die Städte aus eigener Kraft nicht aufbringen können. Die Stadt braucht zugleich eine Privatwirtschaft mit Unternehmen, die Arbeitsplätze schaffen und an den Veränderungen unserer Arbeitsweisen teilhaben.  
 
Eine besondere Rolle wird Investierenden als wichtigen Vermittelnden zugeschrieben. Denn die Art und Weise, wie eine Stadt aufgebaut oder verändert wird, ändert sich mit ihnen. Es ist essenziell, für Investorinnen, Investoren und Städte, dass verstanden wird, dass Immobilien nicht nur als Orte gestaltet werden, an denen wir beispielsweise ausschließlich wohnen. Es geht nicht ausschließlich darum, Raum zum Aufhalten zu errichten, sondern darum, in einer Stadt auch tatsächlich zu leben. Es muss klar werden, dass der Wert zukünftig nicht auf Quadratmeter im Inneren zurückzuführen ist, sondern auf die Vielfalt der Dienstleistungen, die konstituiert werden können. Durch ein Zusammenrücken und -leben entsteht eine (Interessens-)Gemeinschaft, aus der sich zivilgesellschaftliche Initiativen (beispielsweise aus der freien Kulturszene) entwickeln, um bestimmten Räumen und Gebäuden Alternativen und neue Perspektiven bei der Neuerfindung und Weiterentwicklung zu eröffnen.

 

Neue Raumnutzung: Wir müssen Immobilien als Plattform des Lebens begreifen

Der überwiegende Teil unserer Räume und Gebäude innerhalb einer Stadt dient in der Nutzung lediglich einer Sache. Das führt dazu, dass 60-70% der Gebäude beispielsweise in Paris geschlossen und damit ungenutzt sind. Unzählige Quadratmeter einer Stadt sind damit durch leere, ungenutzte Fläche blockiert. Liegt die Lösung nicht auf der Hand, in dem wir Gebäude im guten Zustand vielfach nutzen und in ihnen verschiedene Aktivitäten beherbergen? Es gibt viele Ideen: Schulen werden für Sprachkurse genutzt, stillgelegte Gebäude werden zu Co-Working-Spaces, Cafés werden für Musik- oder Kreativkurse erschlossen, öffentliche Gebäude bieten kulturelle Veranstaltungen und Sporthallen werden zum Tanzen und Feiern geöffnet. Es klingt so einfach, doch ist es nicht trivial. Denn es erfordert ein fundamentales Umdenken aller Beteiligten und das Aneignen von neuen Lebensweisen. Dabei lieben wir doch Gewohnheiten, die wir Veränderungen vorziehen.

 

Kritisierende sprechen von einer verstärkten Ausgrenzung und einem Stammesdenken, das die Verinselung von Stadtteilen oder „Verdorfung“ einer Stadt fördert

Wie jedes andere Konzept ist auch dieses Kritikpunkten ausgesetzt. Zunächst muss verdeutlicht werden, dass jede Stadt ihre eigene Strategie verlangt, bekanntermaßen ist sie bereits aufgrund historischer und geografischer Voraussetzungen individuell. Während das Konzept beispielhaft in durchmischten innerstädtischen Quartieren oder im Bestand und Neubau von Quartieren auf Brachflächen leichter umsetzbar ist, ist es in Einfamilienhausgebieten am Stadtrand schwieriger.  

Für viele Menschen ist das Konzept, insbesondere den Arbeitsplatz betreffend, eine Utopie. Schließlich lässt sich nicht jeder Arbeitsplatz in 15 Minuten erreichen und gewiss ist nicht jede gewerbliche oder industrielle Ansiedlung mit unmittelbarer Nähe zum Wohngebiet vereinbar und wünschenswert. Trotz Trends wie beispielsweise Home Office, fortschreitender Digitalisierung und Einsatz von Robotik in Produktionsprozessen stellt der Arbeitsplatz die größte Hürde in einer 15-Minuten-Stadt dar.  

Mit der Realisierung des Konzepts treten wir einen Gewöhnungsprozess los. Denn unsere jetzige Lebensart ist multilokal: Unsere Freizeit verbringen wir zum Beispiel gern auch außerhalb unseres eigenen Quartiers, sei es zum Sport oder zum Besuch kultureller Events. Ebenso kann nicht die Bereitschaft aller zum Verzicht auf das Auto gefordert werden. Das führt zu Konflikten, auch wenn es Klimaschutz betreffend sinnvoller ist, Angebote, die man benötigt, in die Stadt zurückzuholen, anstatt neue Verkehrswege zu schaffen, um den Bedarf außerhalb zu decken. Würden alle alternative Mobilitätsangebote wie das Rad, Carsharing oder den ÖPNV nutzen, lässt sich eine 15-Minuten-Stadt gut verwirklichen. Doch das entspricht nicht der Realität. Zudem ist es wichtig, zu verstehen, dass eine Mobilitätswende in einem Quartier nicht losgelöst von der Region betrachtet werden kann. Sie funktioniert nur, wenn sie in eine Gesamtmobilitätsstrategie der Region eingebettet wird. Ohne ein dichtes, leistungsstarkes und schnell getaktetes ÖPNV-Netz und gut ausgebaute Radwege geht es nun mal nicht. Dieses klimafreundliche Mobilitätsangebot stampft man nicht leicht aus dem Boden, es ist wichtig, die Angebote auf mehreren Ebenen zu vernetzen.

 

Die Stadt der Zukunft ist beweglicher, adaptiv, ressourcenschonend und gesund.  
Das Konzept der 15-Minuten-Stadt setzt wichtige Impulse in die richtige Richtung.

Im Sinne des Klimaschutzes und den sich wandelnden Umweltbedingungen brauchen wir zukunftsfähige Konzepte, die es uns ermöglichen, auf ein (eigenes) Auto zu verzichten. Zumindest solche Ideen, die das Auto nicht priorisieren. Wir müssen kritisch hinterfragen, ob es auch zukünftig (für einen bestimmten Personenkreis) Sinn macht, weite Strecken zurückzulegen, um einen (täglichen) Bedarf zu decken. Womöglich nur, um an einen Ort zu gelangen, an dem man den Tag verbringt, um abends wieder zurückzukehren. Wir können mit dem Gedanken spielen, ob eine 15-Minuten-Stadt nicht ein Bindeglied in die Randbezirke sein kann, in denen viele von uns leben, weil sie dem Trubel einer Stadt und dem Verteilungskampf um Fläche entfliehen oder sich das Leben in der Stadt nicht mehr leisten können. Womöglich fühlen sich Einige in einer 15-Minuten-Stadt, die sozioökonomisch fair und nachbarschaftlich ist, teilweise eingeschränkt, es zieht sie trotzdem in die Metropolen, weil es ihnen zu überschaubar und kompakt ist. Doch, dass es punktuell in vielen Städten, auch in der Stadtpolitik und Verkehrsplanung, zum Umdenken kommt, ist gut und wichtig – auch, wenn das Konzept nicht neu ist. 
 
Städte müssen ebenso wie andere Institutionen lernen, mit teilweise unvorhersehbaren Krisen umzugehen und das in immer kürzeren Abständen. Zur Krisenbewältigung ist es wichtig eine urbane Resilienz aufzubauen. So können sich Städte zum Beispiel aufgrund hybrider Lebensräume schnell an neue Situationen und Begebenheiten anpassen. Dorfstrukturen und Urbanisierung können daraus voneinander lernen und profitieren. Besonders für Lebensqualität schaffen Menschen viel Neues, sie werden kreativ und das auch an ärmeren Orten. Diese Kreativität brauchen wir, um den gewachsenen Herausforderungen der Zukunft zu begegnen und unser Mindset zu verändern. Für Städte ist es wichtig, mit ihrer Bürgerschaft dauerhaft im Gespräch zu bleiben und sie an der Veränderung teilhaben zu lassen. Denn ohne eine Änderung unserer Lebensstile und das – teilweise auch schmerzhafte – Ablegen alter Gewohnheiten hat eine 15-Minuten keine reale Chance.