B21F6BB4-1C5E-4341-9402-72115F03EA26 04. Oktober 2017

Herr Kaiser ist in Rente

Die Zeiten, als TV-Werbeikonen wie Tilly, Klementine und Herr Kaiser das öffentliche Markenbewusstsein nachhaltig prägen konnten, sind längst vorbei. An ihre Stelle traten die Social Influencer.

Er war ein Influencer der alten Schule. Mit schütterem Haar, Lederkoffer und graumeliertem Sakko war er ab 1972 das Abbild des Versicherungsvertreters der Hamburg-Mannheimer. „Hallo, Herr Kaiser, gut, dass ich Sie treffe“, tönte es allabendlich aus den Fernsehbildschirmen der deutschen Wohnzimmer, der Slogan erzielt heute noch eine gestützte Bekanntheit von über 80 Prozent. Schauspieler Günter Geiermann, der den vornamenlosen Versicherungsmann 18 Jahre lang mimte, hatte sogar seinen eigenen Fanclub.  Nach 2009 schickte Ergo Direkt, die die Hamburg-Mannheimer-Gruppe übernommen hatte,  den inzwischen von Nick Wilder verkörperten Finanzmakler endgültig in Rente. Damit starb nach Tilly und Klementine eine weitere große Ikone des deutschen Werbefernsehens. Ergo setzt indes auf Influencer wie Kai Bösel. Auf seinen Social Media Plattformen wie dem Kanal Daddylicious steht er Vätern in allen Fragen des Familienlebens – unter anderem auch zur richtigen Versicherung – mit Rat und Tat zur Seite.

Kein Einzelfall. Die Rolle von Klementine und Herrn Kaiser nehmen schon seit einigen Jahren die neuen Youtube-Stars und Instagram-Promis ein. Sie sind Markenbotschafter, deren Urteil sich vor allen Dingen die jüngeren Zielgruppen zu eigen machen. Influencer nennen das die Marketer und 4,6 Millionen Konsumenten gehören laut einer Studie der Agentur Territory Webguerillas und der Hochschule Macromedia hierzulande dazu: Experten, die gemäß der Studie oft nach Informationen über Produkte, Einkaufsstätten und Angebote gefragt werden – und ihre Meinung dazu auch gerne im Netz verbreiten. Für Marketer haben sie einen unschätzbaren Wert. Denn diese Meinungsmacher, so ein weiteres Ergebnis der Studie, sind authentisch: Sie identifizieren sich im hohen Maße mit den Marken, denen sie auf Social Media folgen. Sie nutzen täglich die sozialen Plattformen und sind besonders stark vernetzt. Von den in der Studie ebenfalls ausgemachten Recommendern unterscheidet sie, dass ihre Marktkenntnis, ihr Markenbewusstsein, aber vor allem auch ihre Social Media Aktivitäten wesentlich ausgeprägter sind. Und dass ihre Meinung um ein vielfaches mehr geteilt wird, als dass sie sie aktiv verbreiten.

Dass Influencer Marketing längst mehr als ein Hype ist, demonstriert der Ritterschlag seitens der mit Werbegeldern nicht eben sparsamen Haute Couture. In der begehrten Front-Row zwischen Vogue-Chefredakteurin Anna Wintour und bekannten Hollywood Stars sind bei den Modeschauen in Paris, London, Mailand, New York und Berlin immer mehr Fashionblogger wie Diana zur Löwen platziert. Dolce & Gabbana ging sogar noch einen Schritt weiter: Bei der Mailand Fashion Week ließ die Luxusmarke Caro Daur höchstpersönlich über den Catwalk schreiten. 1,1 Millionen Menschen folgen der Influencerin bei Instagram. Die 22-Jährige arbeitet mit Marken wie Dior, Cartier, Wempe, Tommy Hilfiger, Marc O'Polo und Calzedonia zusammen.

Ganz so weit wie D&G gehen andere Marken noch nicht, aber der Einfluss der Beeinflusser auf den Marketingmix  ist unübersehbar. Das Kosmetiklabel Maybelline etwa produziert ein wöchentliches Talkformat mit Mrs Bella. Die Beauty-Youtuberin wird von dem Social Influencer Network und 100-prozentiger Ströer-Tochter Tubeone vermarktet. Durchaus mit Erfolg. Die 24-Jährige hat inzwischen ihren Job als Hairstylistin und Makeup-Artist an den Nagel gehängt und lebt nur noch von den Kooperationen mit Markenanbietern (siehe Interview). An Aufträgen mangelt es auch anderen Social Media Größen nicht. Social-Media-Stars mit einer Reichweite von 100.000 bis 500.000 Fans, so hat die Zeitschrift Computerbild herausgefunden, verdienen auf Youtube bis zu 12.000 Euro - pro Video.

Das Business boomt also – auch für die Auftraggeber. „Influencer spielen bereits seit einigen Jahren eine immer größer werdende Rolle im Marketing-Mix von Esprit“ sagt  Judith Jahnke, Head of Fashion PR beim Esprit Global Marketing. Die Fashionblogger bindet der Modefilialist auf verschiedensten Wegen ein. Die am weitesten gehende: inhaltlich geschlossene Kampagnen mit einer Gruppe an Influencern oder Kooperationen mit einzelnen Testimonials über einen längeren Zeitraum hinweg. Für Esprit zahlt sich das aus. „Wir sind jetzt an einem entscheidenden Punkt angelangt, wo sich Influencer-Marketing von einem Trendthema hin zu einem umsatzrelevanten und Markenwerte schaffenden Thema wandelt“, erklärt Jahnke . Die Fashionbranche ist übrigens kein Einzelfall. Mit Instagrammern wie Akusepp, Sergiujurca und Joeygraceffa trommelte Kopfhörer-Hersteller Sennheiser für sein Modell Urbanite. Der Einfluss der Meinungsmacher reicht selbst in den B2B-Bereich: der Versicherungskonzern Hiscox verbreitete die Vorzüge seiner Unternehmenshaftpflicht unter anderem über Startup-Blogger Florian Semle. Und die Container-Reederei Maersk streute seine Themen rund um das Verladen und Verschiffen von Waren über Stakeholder auf Twitter, Instagram und die Business-Netzwerke.

Influencer Marketing wird zunehmend zur anerkannten Kommunikationsdisziplin. Zwar kann laut Territory Webguerillas nur gut jeder zweite Marketingentscheider schon konkret etwas mit dem Begriff Influencer Marketing anfangen, dennoch gilt die Kommunikationsform für 57 Prozent aller Entscheider als die Disziplin mit der höchsten Glaubwürdigkeit – noch vor der Öffentlichkeitsarbeit (54 Prozent), Content Marketing (50 Prozent) und klassischer Werbung (47 Prozent). Zu diesem Ergebnis kommt eine aktuelle Online-Studie der Agentur mit 100 Teilnehmern, die mit der Disziplin vertraut sind. Zwei Drittel dieser Befragten hat 2017 ein Budget für Influencer Marketing vorgesehen.

Doch wie findet man ihn – den optimalen Influencer? Sandro Schramm etwa legt größten Wert auf Authentizität und Markenfit, der Director Marketing bei dem Modelabel S.Oliver wählt deshalb nur Meinungsbildner aus, die echtes Interesse an der Marke haben. Auf Faktoren wie Brand Fit, Skills, Erfahrungen, Interesse, Relevanz und die tatsächliche Reichweite legt Zalando-Marketerin Jolanda Smits ihren Fokus. Reichweite sei allerdings nicht der wichtigste Faktor. „Viel interessanter als die Anzahl der Follower ist für uns das Engagement des Markenbotschafters und seine tatsächliche Interaktion mit seiner Audience.“ Territory wiederum arbeitet mit einem umfangreichen Kriterienkatalog, der den perfekten Fit zwischen Influencer und Marke/Projekt garantiert. Der Checkliste liegen sowohl qualitative als auch quantitative Aspekte zu Grunde. Zu den qualitativen Kriterien zählen beispielsweise Glaubwürdigkeit, Themen-/Branchenfit, Markenfit und Content-Qualität. „Unsere quantitative Analyse gibt Aufschluss über Parameter wie Reichweite des Influencers, Aktivität, Community-Engagement oder den Influencer Net-Promoter-Score“, erklärt Geschäftsführer David Eicher. Letzterer legt das Verhältnis von Fans, Sympathisanten, Indifferenten, Nicht-Kennern und Hatern in der Zielgruppe offen.

Die Datenbank InfluencerDB.net rechnet sogar den Mediawert eines Influencers aus. Der zeigt an, wie viel es kosten würde, die Reichweite von Instagrams Posts mit Werbung zu erzielen. Unangefochten an der Spitze bei Fashion & Beauty: Bibis Beautypalace. Jeder Post der Influencerin, die mit Bilou erfolgreich eine eigene Duschgellinie lanciert hat, entspricht derzeit knapp 27.000 US-Dollar. Mrs Bella, Herausgeberin eines gemeinsam mit dm kreierten Lidschattenensembles,  bringt es demnach auf einen Mediawert von 6600 Dollar pro Post.

Längst also ist Influencer Marketing kein Roulette-Spiel mehr. Die Effekte lassen sich messen.  und von der Hand weisen lässt sich die Wirkung ohnehin nicht mehr. So nutzen laut der Goldmedia-Studie „Bedeutung von Influencer Marketing in Deutschland 2017“ 36 Prozent der 14- bis 17-Jährigen den Input von Influencern, um sich über Produkte zu informieren. Und 29 Prozent halten die Produktpräsentationen von Influencern für besonders glaubwürdig. Frustrierend für die klassischen Werbevermarkter: nur 27 Prozent sagen dasselbe über Produktbesprechungen in Zeitungen und Zeitschriften. Empfehlungen von Social-Media-Freunden (26 Prozent) schneiden kurioserweise gleichfall schlechter ab als die der Webstars. Printanzeigen (12 Prozent) und TV-Spots (7 Prozent)? Schnee von gestern – zumindest glauben die 14- bis 17 -Jährigen nicht mehr daran. Klementine und Herr Kaiser, Sie könnten hier wirklich nicht mehr punkten.