B21F6BB4-1C5E-4341-9402-72115F03EA26 06. Dezember 2022

RETRO Special Teil 3: Erinnerungen: Warum sind sie so wichtig und was machen sie mit uns?

Das wichtigste Organ eines Menschen ist das Gehirn. Gleichzeitig macht es bei einem erwachsenen Menschen gerade mal zwei Prozent der Gesamtkörpermasse aus. Doch dieser geringe Prozentwert für das sehr komplexe Gehirn schmälert in keiner Weise seine hohe Bedeutsamkeit für uns, im Gegenteil: Es steuert unseren Körper samt Bewegungen, unsere Persönlichkeit und auch unsere Gedanken. Die Reihe der Aufgaben ist deutlich länger – wir sollten dieser kleinen Masse also dankbar sein. Im Kontext Nostalgie ist die wichtigste Funktion: Speichern – das Speichern von Daten, Fakten und vor allem auch Erlebnissen.  

Daraus entstehen in einem teigartigen und weichen Teil, dem Großhirn, unsere Erinnerungen, auf Basis der empfangenen Sinneswahrnehmungen. Es ist kaum zu glauben, dass der griechische Philosoph Aristoteles lange glaubte, dass Bewusstsein und Denken nicht im Kopf stattfinden, sondern in unserem Herzen. Er sah das Gehirn lediglich als eine Art Ventilator, der das Blut abkühlt, wenn das Herz überhitzt ist.  
Erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts konnte die Anatomie des Menschen vollständig wissenschaftlich erfasst werden. Das führte auch dazu, dass 1885 erstmals empirisch – durch Hermann Eddinghaus – folgendes belegt* werden konnte: Je länger etwas zurückliegt, desto weniger erinnern wir uns daran (im Normalfall). Heute ist es selbstverständlich für uns, dass wir uns Dinge besser einprägen, je häufiger wir ihnen begegnen. 

Es gibt viele Annahmen zu unseren Erinnerungen, die mehr als 100 Jahre alt und dennoch immer noch gegenwärtig sind. Andere wiederum konnten über die neuen Möglichkeiten der Wissenschaft belegt oder widerlegt werden. Wir gehen der neurowissenschaftlichen Basis für Nostalgie auf den Grund und fassen die spannendsten Erkenntnisse zur Magie der Erinnerung zusammen: 

Fähigkeit zur Zeitreise 

Wir haben mit unseren Erinnerungen eine (positive) ansehnliche Fähigkeit: Wir können das Unmögliche möglich machen. Unsere Erinnerungen befähigen uns, eine mentale Zeitreise zu machen. Faktisch lässt sich die Zeit nicht zurückdrehen, in unseren Erinnerungen können wir es dennoch. Denn unsere Vergangenheit lebt in unserem Kopf und (Grüße an Aristoteles) unserem Herzen weiter. Das können wir als eine Gabe ansehen und annehmen. Menschen verfügen über ein sogenanntes autonoetisches Bewusstsein. Damit können wir mental in die Vergangenheit reisen, wir erinnern uns bewusst an Vergangenes. Allein diese Erinnerung bereitet uns eine Freude. Oder ist die Vergangenheit gar nicht schön, sondern der Umstand, dass wir uns überhaupt darin erinnern können? 

Gegenstände als emotionale Besitzgüter 

Gegenstände können für uns Erinnerungsträger sein. Stellen Sie sich die Frage, welche Gegenstände sie retten würden, wenn Ihr Haus brennt und Sie nur wenige Sekunden Zeit haben, etwas zu retten. Dazu gab es Experimente und die Ergebnisse haben gezeigt: Die Antworten spiegeln nicht (nur) die Interessen der Menschen wider. Diese Gegenstände verraten viel über uns, sogar intime Details unseres Lebens – die wir womöglich nicht mit anderen teilen würden, weil sie einen gewissen Teil der Persönlichkeit offenbaren. Das kann für jemanden ein langweiliges Buch sein, für eine bestimmte Person jedoch ein Geschenk des verstorbenen und weltbesten Großvaters. Für den Hinterbliebenen ist dieses Buch einzigartig und unersetzlich. Der materielle Wert des Gegenstandes ist oft ein geringer, der ideelle dagegen umso höher. Das schulden wir unseren Erinnerungen. Unsere Besitztümer machen uns zu dem Menschen, der wir sind oder sein möchten. 

Gedankliche Brücke 

Bei nostalgischen Erinnerungen geht es häufig um Erlebnisse mit Menschen. Besonders um Menschen, die uns nahestanden oder heute noch sehr wichtig sind. Wenn wir auf nostalgische Produkte zurückgreifen, bauen wir eine gedankliche Brücke zu diesen Erinnerungen. Dieses Verlangen kommt verstärkt dann auf, wenn wir uns ausgeschlossen oder abgelehnt fühlen. Fehlt ein gewisses Zugehörigkeitsgefühl, steigt dieses Verlangen. 

Erinnerungen sind subjektiv 

Wir speichern in unserem Gehirn ab, was wir erlebt, wen wir getroffen haben und wo wir gewesen sind. Klingt erstmal banal, doch das Spannende dabei ist, dass diese Erinnerungen einerseits nur uns gehören und dass wir anderseits mit ihnen machen können, was wir wollen. Wir können uns bestimmte Situationen schlecht reden, aber was bringt es uns im Nachgang? Fühlen wir uns danach besser? Sicherlich nicht. Wir wollen, dass es uns gut geht, was auch dazu führt, dass wir schlechte Erinnerungen oder negative Erlebnisse verdrängen und uns die positiven besonders hervorheben.  

Erinnerungen als Therapie 

Manchmal sind es nur kleine Momente oder Teile davon, die in unseren Gedanken unbewusst weiterleben. Manchmal müssen wir auch gar nicht viel dafür tun, damit sie wieder auftauchen. Durch unsere Erinnerungen werden wir zugänglicher. Viele Experimente, teils wissenschaftlich fundiert, haben gezeigt, dass depressive Symptome und Kummer durch Nostalgie gemindert werden oder verschwinden können. Und warum? Umso öfter wir gedanklich in die Vergangenheit reisen können, desto stärker können wir unser Leben in der Realität genießen. Durch die Gedankenreise in die Vergangenheit können wir uns ein Stück selbst heilen. Und genau diese Reise sorgt dafür, dass das Leben oftmals wieder lebenswert wird.Wichtig zu verstehen ist, dass es dabei nicht um eine Flucht aus der Gegenwart geht, in der die Rettung in der Vergangenheit stattfindet. Es geht vielmehr darum, die Vergangenheit sinnvoll in die Gegenwart zu integrieren. Nostalgische Erinnerungen können unserem Dasein einen Sinn verleihen, sie heben die Stimmung. Sie funktionieren wie ein Sicherheitsnetz, das uns auffängt, wenn wir mal fallen. Besonders bei Sorgen und Ängsten, Unsicherheit und Unzufriedenheit neigen wir dazu die Vergangenheit herbeizuführen. Nostalgie hilft uns, mit diesen Emotionen umzugehen oder noch besser: sie loszuwerden. Sie verursacht keinen Schmerz, sondern lindert ihn. Nostalgische Erinnerungen sorgen für Ordnung im Chaos des Lebens – sowohl individuell als auch gesellschaftlich.  

Auch der Konsum von nostalgischen Produkten hat eine therapeutische Wirkung. Je schlechter es uns geht, desto eher greifen wir auf Produkte zurück, mit denen wir schöne Erinnerungen verbinden. Auch dadurch fühlen wir uns besser.

Unfreiwillige, autobiografische Erinnerung 

Unser autobiografisches Gedächtnis bevorzugt angenehme Informationen. Das heißt: Es gibt Momente, die wir währenddessen als langweilig oder nervig empfinden. Wir stören uns an lästigen Details und beklagen uns über viele Umstände. Doch im Nachgang – mit ein wenig zeitlicher Entfernung – empfinden wir diesen Moment anders und vor allem nur halb so schlimm, als wir ihn während dieser Zeit tatsächlich empfunden haben. Im Rückblick betonen wir schöne Aspekte und blenden unschöne aus, eine Art rosarote Erinnerung. 

Die Magie unserer Erinnerungen lässt viele Erlebnisse wieder greifbar erscheinen. Diese Erlebnisse unserer Vergangenheit tauchen auch zufällig und unfreiwillig auf. Das kann ein Lied im Radio sein, das uns an eine bestimmte Person erinnert. Es kann der Geruch eines Lebensmittels sein, der Besuch eines Ortes oder allein schon der Anblick eines Gegenstandes. Und genau diese Erinnerungen sind die Regel! Autobiografische Erinnerungen sind wichtig für unsere Identität. Sie erzählen unsere Geschichte – wie wir uns sehen und verstehen. Sie sind kein Anlass zur Sorge, sondern ein Grund zum Freuen. Sie sorgen dafür, dass wir uns als Persönlichkeit erfahren. Besonders im Alter wird ihnen eine größere Bedeutung für das psychische Wohlbefinden zugeschrieben. Denn dann setzen wir uns gerne mit autobiografischen Erinnerungen auseinander und teilen sie auch gerne mit anderen. Diese intensive Auseinandersetzung mit unseren autobiografischen Erinnerungen hält uns psychisch gesünder.

Wir färben Erinnerungen schön 

Menschen besitzen ein psychologisches Immunsystem. Das führt dazu, dass wir zum Verklären neigen und unsere Erinnerungen schönfärben. Das ist natürlich! Besonders bei Kindheitserinnerungen: Werden sie geweckt, verändern wir uns im Positiven. Es fühlt sich gut an und vor allem auch besser als eine ungewisse Zukunft. Diese ist uns nicht recht. Wir flüchten dahin, wo wir uns auskennen – in die abgeschlossene Vergangenheit. Davon profitiert unser psychologisches Immunsystem: Denn damit werden unsere negativen Erinnerungen anders behandelt als positive. Was dazu führt, dass unangenehme Erinnerungen schneller verblassen als schöne (sog. Fading affect bias). Im Rückblick verblassen negative Details – ein Dank an unsere begrenzte Aufnahmefähigkeit und Aussortierfunktion. Dieser Effekt hält unseren Geist gesund – auch, wenn unser Gehirn uns dafür reinlegen muss. Diese subtile Manipulation befähigt uns, mit Tragödien umzugehen, schöne Momente zu genießen und uns zu freuen.  

Schöne Erinnerungen beeinflussen zudem auch, wie großzügig wir anderen Menschen gegenüber sind. Dieser Mechanismus funktioniert auch im Konsumbereich. Unsere teils verklärte Vergangenheit wird besonders durch Werbung künstlich geweckt. Die dadurch positiven Gefühle übertragen sich auch auf Produkte. Die Folge: Wir kaufen sie umso lieber. Im nächsten Teil unserer Blog-Reihe blicken wir auf Produkte, Marken und ihre Retro-Marketing-Strategien und wie sich daraus ein wichtiger Wirtschaftsfaktor entwickelt hat.

* aus dem Buch Daniel Rettig „Die guten alten Zeiten“