21. November 2022
Für die einen ist es ein nur Trend, für andere vielmehr ein Phänomen. Jede/r definiert Nostalgie ein wenig anders und schenkt ihr ungleich viel Bedeutung im Leben. Ebenso werden Nostalgie unterschiedliche Fähigkeiten und Attribute zugeordnet: von Anker, über Sehnsucht, Anziehungskraft und Vorliebe bis zum Fluch ist die Spannweite ziemlich groß und weder eindeutig negativ noch positiv. Doch wenn wir von Nostalgie sprechen oder sie vielmehr auch (ver)spüren, hören wir oft den Bezug zu einer „besseren Zeit, in der das Leben einfach und unbeschwert war“.
Das mag stimmen, auch wenn wahrlich in vergangenen Zeiten nicht immer alles besser war. Dennoch wirkt die Vergangenheit aus zeitlicher oder auch örtlicher Entfernung betrachtet oftmals „rosiger“. Eine Zeit, in der die Welt noch nicht multidimensional war, in der soziale Medien und technologische Lösungen noch keine Grenzen aufgehoben haben und eine weltweite Vernetzung unabhängig von Raum und Zeit undenkbar war. Hinzu kommt, dass unser Gehirn darauf trainiert ist, die Vergangenheit positiver zu bewerten als die aktuelle Situation.
Das Eintauchen in die Vergangenheit weckt immer Emotionen und meist fühlt sich das für uns gut an. Und auch, wenn wir diese Vergangenheit nicht persönlich miterlebt haben, weil wir vielleicht noch nicht auf der Welt waren, werden wir gern nostalgisch. Wir holen uns auf unterschiedliche Art und Weise einen Teil der Vergangenheit zurück. Aus gutem Grund: Nostalgie macht uns glücklich – wissenschaftlich bewiesen (Dazu bald mehr in unserem 3. Teil „Erinnerungen“). Wir umgeben uns gerne von Gegenständen, die Teil unserer Vergangenheit sind. Sie schaffen eine Art (Gedanken-)Brücke und erlauben es uns, ins Gestern „abzutauchen“. Das fühlt sich einfach gut an! Besonders dann, wenn es uns nicht gut geht oder einschneidende Erlebnisse uns, unser direktes Umfeld oder unsere gesamte Gesellschaft betreffen und unseren stabilen Lebensalltag ins Wanken bringen, verspüren wir ein Bedürfnis nach Nostalgie. Der Gedanke liegt nah, dass Nostalgie vor allem dann dazu dient, gewisse Lebensphasen zu überbrücken. Vor allen Dingen in Zeiten des Wandels entsteht eine Sehnsucht nach Wärme, Sicherheit und Kontinuität, die wir in der Vergangenheit empfunden haben. Die Rückbesinnung auf vergangene Traditionen und kulturelles Erbe ist auch das, was uns in diesen schwierigen Zeiten enger zusammenrücken lässt. Nostalgie sorgt für Vertrautheit und Solidarität. Aus unseren Erinnerungen schaffen wir Kraft, jegliche Widerstände zu überwinden. Daniel Rettig schreibt in seinem Buch „Die guten alten Zeiten“ dazu: „Gemeinsame Erinnerungen sind der Klebstoff, der die fragile Gemeinschaft zusammenhält.“ Fragt man Fußballfans nach ihrem Lieblingsverein, geht es nicht um eine erfolgreiche Mannschaft, der man sich zugehörig und verbunden fühlt. Sie identifizieren sich aufgrund vieler Erinnerungen mit dem Verein.
Nostalgie ist wie eine Art Gefühl, das riecht, schmeckt und klingt. Es bestimmt unser ganzes Leben und jeder hat etwas „beizusteuern“. Den jede/r trägt ganz persönliche Erinnerungen mit sich. Das Zurückblicken ist kein Zeichen von Angst, Flucht, Rettung oder Schwäche, wir profitieren von unseren nostalgischen Gedanken. Der Blick zurück ist hilfreich und seien wir ehrlich: Wir müssen weder viel dafür tun noch uns dabei bewusst anstrengen. Erinnerungen tauchen oft plötzlich und unvermittelt auf. Und aufgrund des demografischen Wandels empfinden heute mehr Menschen als je zuvor Nostalgie. Mit unserer steigenden Lebenserwartung steigt auch die Macht unserer Erinnerungen. Denn: Aufgrund des höheren Anteils älterer Menschen wird es immer mehr Menschen geben, die über mehr Vergangenheit als Zukunft verfügen – auch wenn es wichtig ist, sich immer eine Zukunft vorzubehalten.
Die amerikanische Marketingprofessorin Barbara Stern beschreibt zwei Phasen der Nostalgie*, die ebenfalls eine Mischung ergeben können:
Die persönliche Nostalgie beinhaltet also auch die schmerzliche oder sentimentale Erkenntnis, dass sich die Zeit nicht zurückdrehen lässt. Es kann auch die nahe Vergangenheit sein, die Menschen schwelgen lässt. Nostalgie-Zyklen werden immer kürzer. Doch keine Sorge – das Phänomen beginnt vielleicht in der Kindheit oder Jugend, aber es hält ein Leben lang an. Sie bezieht sich längst nicht immer auf eine bestimmte Phase unseres Lebens.
Wir sollten uns immer wieder vor Augen führen und das Bewusstsein dafür schärfen, dass Nostalgie unsere Gedanken, Gespräche, aber auch unsere Entscheidungen – besonders im Konsum – prägt. Sie ist ein mächtiges Instrument, auf vielen Ebenen und für viele Interessensgruppen.
Besonders Markenartiklern ist bewusst, dass wir gerne auf Bekanntes und Bewährtes zurückgreifen. Die Vorzüge, in einer schon genug fordernden Gegenwart, liegen auf der Hand: Komplexität reduzieren, Unsicherheit verringern, gedankliche Anstrengung vermindern und das Risiko einer Enttäuschung senken.
Neben den oben genannten Vorzügen und einer neurowissenschaftlichen Basis ist die einfachste Erklärung: Retro trifft den Geschmack der meisten Menschen. Shiv Singh, einst verantwortlich für die Digitalstrategie bei Pepsi, sagte 2009 zur Retro-PR-Aktion des Unternehmens*: „Menschen um die 20 finden Retro einfach cool, weil es ihrem Bedürfnis entspricht, ein einfacheres, saubereres und authentisches Leben zu führen. Viele nutzen soziale Medien, um sich eine eigene Identität zu verpassen. Und Nostalgie ist eine gute Methode, um sich von anderen abzuheben.“
* aus dem Buch Daniel Rettig „Die guten alten Zeiten“