B21F6BB4-1C5E-4341-9402-72115F03EA26 08. Mai 2023

Seamless Consumer – Das Shopping der Zukunft

Das Shopping der Zukunft ist nahtlos. Willkommen im Tempel persönlicher Wünsche.

Judith Barbolini vom Rheingold Institut eröffnete mit einer Keynote den ECR Austria Tag 2022. Vor rund 400 Zuschauer:innen sprach sie über Konsument:innen der Zukunft, die „seamless consumer“. Zukünftig geht es nicht mehr nur um die Befriedigung von Bedürfnissen, vielmehr wird das Einkaufen noch stärker vom Wunsch nach persönlicher Weiterentwicklung getrieben. “Man kauft keine Produkte mehr, sondern Lösungen für Lebensfragen.” Wir fassen die wichtigsten (psychologischen) Erkenntnisse zusammen und stellen die Konsument:innen der Zukunft genauer vor.

Produkte transportieren Werte, Ideen und Gedanken.

Psychologisch gesehen ist jeder Einkauf ein Prozess der Selbstfindung und Identifikation mit einer Gruppe, einer Idee oder einem Wunsch. Doch wie kaufen wir in einer zukünftigen Realität ein, die kaum gesellschaftliche Rollenvorbilder bietet, mit denen wir uns identifizieren können oder gar wollen? Wie kaufen Konsumierende in Zukunft ein, wenn jede:r einzigartig sein soll und Gruppen und standardisierte Produkte keine Identität mehr stiften?

Die Welt des Shoppings entwickelt sich zurzeit in einem rasanten Tempo, zudem adaptieren Menschen neue Technologien – es entstehen neue psychologische Bedürfnisse. Wir werden in Zukunft noch mehr auf der Suche nach persönlicher Selbsterfahrung und Selbstfindung, nach Orientierung und individueller Weiterentwicklung sein. Wir müssen uns auf eine neue Wirklichkeit einstellen, in der Konsumierende nahtlos zwischen analogen und virtuellen Welten agieren sowie im wahrsten Sinne zum „Seamless Consumer“ werden.

Das Leben hat sich über Jahrzehnte individualisiert, virtualisiert und entmaterialisiert.

Um die Konsequenzen für Marken zu verstehen, blicken wir über die letzten Jahrzehnte auf 4 prototypische Phasen des Einkaufsverhaltens und eine gesellschaftliche und psychologische Entwicklung.

In der Nachkriegszeit ging es beim Einkaufen 1.0 um die Bedarfsdeckung. Die zentrale Frage hieß „Was brauchen wir?“, um Grundbedürfnisse einer Gruppe, meist der Familie, zu decken. Die Welt war analog, linear und überschaubar. Man musste nicht zwischen Varianten auswählen. Das Einkaufen war psychologisch gesehen noch einfach. Das Produkt stand im Fokus: Es war anfassbar, konnte geschmeckt werden und die Qualität war stark im Material verhaftet. Produkte baten Sicherheit und Beständigkeit.

In den 1970/80er Jahren markierten Produkte zunehmend den Status und die Zugehörigkeit zu einem soziodemographischen Milieu. Produkte gewannen an symbolischem Wert. Beim Einkaufen 2.0 ging es um Selbstaufwertung. Plötzlich kamen wir in eine Zeit, in der Produkte einem das Gefühl gaben, sich besser zu machen und das Leben voranzubringen. Das Verhältnis zwischen der Welt und Konsumierenden wurde dialogisch. Die Produkte vermittelten „Mit mir kannst du es schaffen. Mit mir wirst du groß.“ Somit begann die Zeit des Wachstums, des Größer-Werdens, der Gier. Eine Zeit, in der Konsumgüter ganz groß waren, beispielsweise das Auto. „Schneller, höher, weiter, mehr!“ lautete das Motto. Es ging um bedingungslosen Genuss.

Doch bereits in den 90er Jahren zeigte sich eine gewisse Konsum-Sättigung. Damit wurden Statussymbole immer erschwinglicher und Menschen anspruchsvoller und kritischer. Mit dem Smartphone wurden Konsumierende allmächtig: Egal, wo und wann: Man hatte Zugriff auf jedes denkbare Produkt oder jeden Service. Dadurch wandelt sich stetig das Verhältnis zum Einkauf, nun geht es darum „Was können Produkte einem bieten?“ Als Konsument:in hat man mehr den Drang von einem Produkt umworben werden zu wollen. Emotionen, Erlebnisse und Selbsterfahrung prägen seit den 2000er Jahren beim Einkaufen 3.0 die Shopper Experience. Wir kommen zu einer Entmaterialisierung. Das Verhältnis zwischen Welt und Konsument:in wird liquide. Wir leben in einer Zeit, in der digitale und analoge Grenzen ineinander verfließen. Alles wird möglich – unabhängig davon, ob man parallel in unterschiedlichen Welten unterwegs ist. Zum Beispiel ermöglicht Einkaufen 3.0 Multichannel-Optionen und permanente Bespaßung (z.B. durch Gamification).

Die Zukunft ist von Seamless Reality und Singularitäten geprägt.

Doch die (Konsum-)Welt wird noch virtueller, globaler, unvorhersehbarer. Wir leben zukünftig in einer Seamless Reality, einer Extremisierung der hybriden Realität, in der wir heute sind. In einer Welt, in der es keinerlei Sicherheiten gibt. Durch Künstliche Intelligenz (KI) erfolgt eine immer stärkere Vernetzung und Virtualisierung, die alles jederzeit verändern kann. Ebenso gewinnen Apps sowie ganzheitliche Lösungen und Services immer mehr an Bedeutung.

Jede:r Einzelne hat kaum noch Einschränkungen, die den Lebensweg beschneiden, aber auch keine Vorbilder, die eine Richtung vorgeben könnten. Jeder Mensch darf und muss sich ganz individuell und einzigartig entwickeln (Singularitäten, vgl. Reckwitz). Diese Singularität bedeutet eine direktere und dialogische Kommunikation und einen direkten Austausch mit jedem Einzelnen. Dies ist psychologisch gesehen einerseits in Bezug auf Weiterentwicklung eine große Chance, anderseits auch sehr anstrengend. Es kann uns an unsere eigenen Grenzen führen, wodurch Orientierungsnot entsteht. 

Im zukünftigen Einkaufen 4.0 geht es somit nicht mehr nur um die Erfüllung von eigenen oder durch Werbung inspirierte Bedürfnisse. Das Einkaufen wird mehr denn je zum Selbstfindungsprozess. Schließlich kann man sich aufgrund der Vielzahl an Singularitäten nicht mehr an einer Gruppe orientieren. Entkoppelt von natürlichen Rhythmen und Lebensfestlegungen werden „Seamless Consumer“ der Zukunft noch flexibler aus den situativen Bedürfnissen heraus agieren: Man muss jederzeit bereit sein, für was auch immer dann kommt. Es wird nicht mehr zwischen Kanälen, Beschränkungen oder Grenzen unterschieden. Das bringt uns (durch permanente Selbstfindung) in eine neue Art des Seins und der „Self Experience“. Zusätzlich werden Werte wie Ethik, Diversity und Purpose uneingeschränkt mitgedacht. Heutzutage packt man diese Werte „noch drauf“, der „Seamless Consumer“ lebt damit und stellt sie gar nicht mehr in Frage.

Der Wunsch nach einer neuen Instanz – Sind KI oder Spiritualität die Lösung?
„Wer bin ich? Was bringt mich jetzt gerade weiter?“. Selbst, wenn damit die Angst verbunden ist, durchleuchtet und manipuliert zu werden, wünschen sich „Seamless Consumer“ mehr denn je eine Instanz, die sie individuell verstehen und beraten kann. Da kommen KI und Spiritualität ins Spiel, denn tiefenpsychologisch haben sie einen ähnlichen Nenner: Den Wunsch nach einer höheren Macht, die mit der Hoffnung verbunden ist, auf anonymisierter Basis mehr zu durchschauen, zu verstehen und mehr Zusammenhänge zu erkennen, als Menschen es vermögen. 

Die drei wichtigsten Handlungsempfehlungen an Markenverantwortliche
„Seamless Consumer“ brauchen Hilfestellungen, um sich selbst in einer naht- und haltlosen Welt immer wieder neu zu entdecken und zu erfinden. Sie suchen nach Möglichkeiten, zum besten individuellen Ich zu werden. Das zieht unweigerlich eine Reihe von Folgen für Produkte und Marken nach sich.

  • Seamless Solutions anstatt Produkte
    Unser Verlangen nach ganzheitlichen Lösungen als nur nach einzelnen Produkten wird größer. Einzelne Produkte und Marken brauchen damit eine neue Positionierung, bei der sie sich in ein größeres Gesamtkonzept einbinden lassen oder mit anderen Produkten kooperieren können. Konsumierende der Zukunft wollen keinen Lippenstift mehr kaufen, sondern ein persönliches Konzept von Schönheit – „Mein schönstes Ich“.

  • Hyperpersonalisierung anstatt Zielgruppen
    „Seamless Konsumierende“ möchten ganzheitlich verstanden werden und sich über Produkte und Angebote individuell entdecken und erfahren. Bevor wir in Zukunft ein Produkt kaufen, möchten wir sichergehen, dass das Produkt auch wirklich zu uns, den persönlichen Gewohnheiten und Bedürfnissen passt und uns „versteht“. Zum individuellen Verständnis des Menschen können beispielsweise Hautscans, DNA-Tests, Monitoring oder Tracking stärker herangezogen werden.

  • Dialogische Interaktion statt Produktkommunikation
    Werbung sollte sich in eine interaktive Richtung entwickeln, Menschen direkt ansprechen, zu persönlichen (und anonymen, KI-gesteuerten) Tests auffordern und ganzheitliche Lösungen anbieten, die nicht nur ein Produkt verkaufen, sondern ein Lebenskonzept, in dem „Seamless Consumer“ sich verstanden fühlen dürfen.

Fazit

Das neue Denken in „Seamless Solutions“ erfordert ein großes Umdenken. Marken müssen sich neu definieren und anders agieren. Die Zukunft ermöglicht eine nie gekannte Nähe zu Konsumierenden. Das Entwickeln von Lösungen, die sich nahtlos und persönlich in das Leben der Menschen einfügen, bietet eine große Chance.

Hier geht’s zum Vortrag von Judith Barbolini, Rheingold Institut:
https://www.rheingold-marktforschung.de/trends/ecr-austria-2022/

Beitrag angelehnt an:
https://www.marktforschung.de/marktforschung/a/das-ende-der-marken-wie-der-seamless-consumer-die-zukunft-des-einkaufs-praegen-wird/