03. September 2019
Hochzeit, Scheidung und Hauskauf – das sind die drei Angelegenheiten, zu denen die Bewohner Estlands persönlich anwesend sein und per Hand unterschreiben müssen. Alle anderen lästigen Behördengänge können online erledigt werden – die Steuererklärung, die Gründung eines Startups, die Registrierung zum Organspender und sogar politische Wahlen laufen ohne Nummer ziehen und Anstehen ab. Die Esten nutzen hierfür ihre e-ID-Karte, die dank eines integrierten Chips nicht nur Ausweis, sondern auch Führerschein, Versichertenkarte, Bankkarte, Bonuskarte im Supermarkt und vieles mehr ist. Seit 16 Jahren nutzt die Mehrheit der Esten die digitale Bürgerkarte ganz selbstverständlich im Alltag und sie erspart dem kleinen Baltikum laut Eigenauskunft so 800 Jahre Verwaltungsarbeitszeit, sowie zwei Prozent des Bruttoinlandsproduktes pro Jahr.
Doch wie hat es der 1,3 Millionen Einwohner Staat an die Spitze der digitalen Bewegung Europas geschafft? Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde Estland 1990 zur eigenständigen Republik. Das Land hatte ab 1991 die Möglichkeit, seine komplette Verwaltung neu aufzubauen und setzt seitdem konstant auf Digitalisierung. Die Digitalisierung wird aber nicht als Ziel angesehen, sondern vielmehr als ein Instrument und Mittel zum Zweck, um die Verwaltung effizienter zu gestalten. Das zahlt sich aus: 2018 erreichte Estland im Ranking zur Digitalisierung aller Staaten Europas der Europäischen Kommission Platz neun. Deutschland belegt unter den insgesamt 28 Staaten Platz 23. Hierbei muss man bedenken, dass das estnische Vorzeigemodell nicht eins zu eins auf Deutschland übertragbar ist. Grund dafür ist vor allem unser föderales System, das eine einheitliche digitale Verwaltung erschwert. Und eine Umsetzung solcher Maßnahmen ist in einem Land mit der Einwohnerzahl Münchens sicherlich auch einfacher als in einem Land mit 80 Millionen Bürgern.
Seit 22 Jahren ist der Internetzugang für die Esten ein Grundrecht. Das Ergebnis: Die WLAN-Abdeckung im öffentlichen Raum beträgt 99 Prozent. Selbst am Strand oder in einem Wald ist im Internet surfen ohne Probleme möglich. Diese Maßnahme verhalf Estland zu mehr Infrastruktur im ländlichen Raum, mehr Meinungsfreiheit und weniger Korruption. Doch nicht nur weniger Korruption, sondern auch mehr Transparenz sind die Folge: Esten können jederzeit einsehen, welche staatliche Stelle auf ihr Profil zugreift und zu welchem Zweck. Im Zweifelsfall können Bürgerinnen und Bürger eine Erklärung verlangen, warum auf die Daten zugegriffen wurde.
Ein weiterer Vorteil des smarten Staates: Die digitale Krankenakte. Sie findet sich auch auf der ID-Karte wieder und speichert alle Informationen zu Behandlungen, Diagnosen und Medikamenten von der Geburt bis zum Tod. Auch Rezepte für die Apotheke werden digital übermittelt und Termine beim Arzt selbstverständlich online vereinbart.
Den Umgang mit der Digitalisierung lernen in Estland bereits die kleinsten Bürger: Bereits heute sind 85 Prozent der Schulen ans Programm e-School angeschlossen. Online können Eltern Hausaufgaben und Noten ihrer Kinder einsehen – etwa im Pflichtfach Programmieren. 2020 wird das Unterrichtsmaterial komplett digital sein. Und die Technik-Euphorie wirkt: In der Pisa-Studie liegen Estlands Schüler in Naturwissenschaften auf Platz 1 in Europa.
Und auch bei Smart Parking und autonomem Fahren können andere Länder Europas von Estland lernen: Bereits seit dem Jahr 2000 ist es in Estland möglich, ein Parkticket per SMS zu zahlen. Estland war weltweit das erste Land, in dem Smart Parking möglich war. Ihr System ist jetzt Grundlage für Smart Parking in ganz Skandinavien. Auch beim autonomen Fahren ist Estland Vorreiter: Im März 2017 legalisierte das Land das Testen von selbstfahrenden Autos im Stadtverkehr. Seit Sommer letzten Jahres fahren nun zwei autonome Minibusse durch die Altstadt von Tallinn – allerdings noch in Schrittgeschwindigkeit.
Bleibt zu hoffen, dass auch die Digitalisierung in Deutschland demnächst Fahrt aufnimmt und nicht beim Schrittgeschwindigkeitstempo verweilt. Denn laut aktuellem Internet Speedtest-Ranking des Washington Street Journal, belegt Deutschland mit einer durchschnittlichen Breitbandgeschwindigkeit von 73,05 Mbps nur Platz 33 – knapp hinter Panama.