B21F6BB4-1C5E-4341-9402-72115F03EA26 07. Juni 2023

Apple Vision Pro: Eine psychologische Betrachtung – Stephan Grünewald im Interview mit Ströer

Am Abend des 05. Juni 2023 hat Apple ihre lang ersehnte Vision einer Mixed Reality Hardware veröffentlicht, die Apple Vision Pro. Angelehnt an die Studie „Mensch im Fortschritt“, die Ströer gemeinsam mit dem rheingold Institut für tiefenpsychologische Markt- und Medienforschung aus Köln durchgeführt hat, in der neben 15 anderen technologischen Anwendungen die psychologischen Hürden und Bedingungen hinsichtlich AR- und VR-Anwendungen beleuchtet wurden, möchten wir nun verstehen, welche Seelenbedürfnisse die Apple Vision Pro bedient und an welchen Hürden sie gegebenenfalls scheitert. Dazu haben wir den renommierten Diplom-Psychologen und Mitbegründer des rheingold-Instituts Stephan Grünewald interviewt.  

Ströer: Hallo Stephan, vielen Dank für deine Zeit, wir freuen uns darauf mit dir gemeinsam einen psychologischen Blick auf die menschlichen Bedürfnisse in Zusammenhang mit der neuen Apple Vision Pro zu werfen. Was bewegt Menschen in Deutschland im Allgemeinen dazu eine technologische oder digitale Anwendung anzunehmen? 

Stephan Grünewald: Hallo Ilyas, hallo Anke, vielen Dank für die Einladung. Zuerst einmal gibt es in Deutschland das Grundproblem, dass die Euphorie, die wir noch vor vier Jahren in der Zeit des „digitalen AppSolutismus“ gespürt haben, verflogen ist. Die damaligen Verheißungen, in denen Menschen gottgleich sind, weil sie mit dem „magischen Zeigefinger“ in der Lage sind, mit einem Streichen, Wischen oder per Knopfdruck die Welt zu steuern und zu beherrschen, wurden abgelöst. Weil wir jetzt in eine multiple Krise geraten sind, wurde der ursprüngliche Wunsch nach digitaler Allmacht durch die multiple „Ohnmachts-Erfahrung“ geerdet. Nun geht es den Menschen eher darum, Handlungsfähigkeit – souveräne Beherrschbarkeit – und Autonomie zu erfahren und das ist natürlich eine hohe Messlatte für die Durchsetzung neuer Technologien. 

Für technologische Innovationen insgesamt erleben wir ein Übersättigungs-Gefühl. Menschen haben schon in Bezug auf ihr Smartphone den Eindruck, sie nutzen nur 30% der möglichen Kapazität. Wir sind zum ersten Mal in der Menschheitsentwicklung an einem Punkt angelangt, an dem das technisch Mögliche die kühnsten Wünsche übersteigt. Früher haben Menschen davon geträumt zu fliegen oder den Weltraum zu erobern, was jetzt möglich ist, aber es ist sogar noch viel mehr möglich. Nun kommen die Wünsche auf einmal nicht mehr hinterher. Das ist eine neue Entwicklung, die wir als Paradigmenwechsel beschreiben. Grundsätzlich glaube ich, dass sich erfolgreiche Technologiesprünge immer an etwas orientieren, was im seelischen Bereich bereits angelegt ist. 

Ströer: Ihr (rheingold) habt während der Durchführung der gemeinsamen Studie, bei der psychologischen Betrachtung von AR- und VR-Anwendungen einige (seelische) Hindernisse gefunden, die Menschen davon abhalten diese zu nutzen. Welche sind das? 

Stephan Grünewald: Eine wichtige Hürde ist, dass Technologie den Menschen in ihrem überreizten Alltag einen Mehrwert bieten und gleichzeitig ein Entlastungs-Gefühl geben muss, indem sie souverän beherrschbar ist. Bei Augmented Reality Anwendungen haben Menschen immer die Angst, einem zusätzlichen Informations-Film ausgesetzt zu sein, der die sowieso schon vorhandene Komplexität erhöht und zu einem „Dauer-Flimmern“, einem informativen Overkill führt. Das wiederum führt zu dem Gefühl des Ausgeliefert-Seins. Augmented Reality funktioniert immer dann, wenn sie nicht verwirrt, sondern entwirrt. Wenn sie Menschen die Wirklichkeit erklärt, Orientierung schafft oder Wichtiges und Unwichtiges ordnet. Wenn dieses Bedürfnis erfüllt wird und eine Anwendung dabei hilft, die persönliche Welt neu zu ordnen, auszurichten und zu gewichten, dann ist das eine Technologie, die auch genutzt und angenommen wird. 

Bei der virtuellen Realität haben wir ein ganz anderes Problem gesehen, von dem ich glaube, dass es zum Teil durch die Apple Vision Pro schon bearbeitet wurde. Die Verheißung der virtuellen Realität lautet, dass ich komplett in eine Welt eintauche. Ich bin beispielsweise mitten im Stadion oder in einer Liebes-Romanze etc. Die große Angst dabei ist, dass man sich in dieser virtuellen Welt, weil sie so authentisch ist, verliert. Zu diesem Selbstverlust gesellt sich noch ein weiterer Selbstverlust: Weil die Welt hinter mir – die Realität – virtuell durch das 3D Surrounding abgeschottet wird, ist sie für mich nicht mehr verfügbar. Die reale Welt kann mir also buchstäblich in den Rücken fallen und führt dadurch zu einem doppelten Kontrollverlust: Ich verliere mich in den unendlichen Weiten und Tiefen der virtuellen Welt und gleichzeitig lauert hinter mir die Realität, die ich überhaupt nicht mehr im Blick, geschweige denn im Griff habe. 

Ströer: Wir befinden uns im Zustand einer „Polycrisis“. Führt das aktuelle Stattfinden mehrerer Krisen zu einem steigenden Bedarf an Ablenkung und Abschottung? Zum Beispiel durch das Eintauchen in virtuelle Welten? 

Stephan Grünewald: Diese Tendenz beobachten wir und machen dazu gerade eine große „Zuversichts-Studie“. Die Welt da draußen wird zunehmend ausgeblendet – sie ist zu krisenhaft und zu bedrohlich und führt bei den Menschen zu einem Verdrängungs-Vorgang. Sie ziehen sich sehr stark in die Selbstbezüglichkeit ihres Schneckenhauses zurück, pflegen sozusagen ihren Kokon und bauen ihre Wohn-Oase auf. Das Eintauchen in „Traum-Welten“ kann da eine Zuflucht sein. 

Gleichzeitig ist die Sorge vorhanden, in einer ästhetischen Blase zu landen. Diese kann zwar das Gefühl von Aufgehobenheit vermitteln, kappt aber das Band zum Alltag. Ich empfange keine Nachrichten oder anderen Inhalte mehr. Von daher ist es einerseits eine Sehnsucht weiter abzutauchen und sich abzuschotten, aber die Menschen wollen trotzdem eine gewisse Durchlässigkeit haben. Der Alltag mit seinen Herausforderungen und Momenten darf dabei nicht komplett verloren gehen. 

Ströer: Um darauf direkt einmal einzugehen: Apple verbaut in der Vision Pro Features, die auf die von dir beschriebene Balance zwischen dem Abtauchen und der Verbundenheit mit dem Alltag einzahlen können. Beispielsweise erscheinen Personen automatisch im Sichtfeld tragenden Person und auch diese wird vermeintlich transparent nach außen gezeigt. Mit der „Digital Crown“ gibt es einen kleinen Knopf, mit dem der Grad der Immersion von den Nutzenden bestimmt werden kann. Reden wir hierbei eher von Spielereien oder davon, dass Apple die von dir genannte Punkte auf eine clevere Art und Weise aufgreift und auf die souveräne Beherrschbarkeit einzahlt? 

Stephan Grünewald: Ich glaube, Apple hat das genial aufgegriffen. Eben weil dieser Spatial Computer die eigene Perspektive und die der anderen kombiniert. Hiermit wird aufgefangen, dass uns die Wirklichkeit in den Rücken fällt oder, dass wir wichtige Sachen nicht mitbekommen. Hier ist eine Rest-Wachsamkeit gegeben. 

Außerdem hat Apple genau die Features verwendet, die bereits erfolgreich beim Radio angewendet wurden: Einen Dreh-Knopf, um das Radio lauter oder leiser zu stellen. Wir kommen also in eine Interaktion mit der Technologie, die es mir ermöglicht, meine geistige Umnachtung oder meine Tagträume zu dimmen, zu intensivieren oder sie zu verringern – das hat schon was. 

Ströer: Der erste Spatial Computer von Apple wird voraussichtlich nächstes Jahr im Frühjahr auf dem amerikanischen Markt zu einem stolzen Preis von 3.500 USD zu erwerben sein. Laut ersten Berichten über das Testen der Apple Vision Pro, bietet sie eine außergewöhnlich gute Experience, die weit über Konkurrenzprodukte (z.B. von Meta) hinaus geht. Glaubst du, dass die breite Masse das Produkt trotz des hohen Preises dennoch kaufen wird? Oder glaubst du, dass der Preis das Ganze eher beschneidet und die Early Adopter, die Technikaffinen unter uns, sich erstmal darauf stürzen werden? 

Stephan Grünewald: Ich denke, es ist in zweiter Hinsicht so gedacht. Einerseits steigert der Preis natürlich die Begehrlichkeit: Das Wunder beginnt, wenn man sich über den Preis wundert. Und andererseits, wenn die Early Adopter das Gerät nutzen, dann sind sie die Missionare mit breiter Wirkung. Ich glaube, wie bei allen Technologien, müssen wir auch hier wieder neu laufen und neu sehen lernen. Hier haben die Early Adapter einen Lern-Vorsprung und können dann erzieherisch oder ausbilderisch auf alle anderen einwirken. Von daher ist es eine geschickte Strategie, ein solches, neues Produkt nicht mit der Gießkanne, sondern mit der Pipette zu verteilen. 

Ströer: Gibt es weitere Herausforderungen, denen Apple begegnen muss, da sie nicht den „klassischen“ Ansatz von AR und VR verfolgen? Ergeben sich durch das räumliche Computing, neue Hürden, gerade im Hinblick auf psychologische Fragen oder seelische Bedürfnisse? 

Stephan Grünewald: Computer sind ein Breitbandantibiotikum für unsere „Stimmungs-Prophylaxe“. Wir können im Computer Urlaubsträume vorkosten, unsere Mails abarbeiten, in die Spielwelt abdriften oder mit Freunden chatten. All das führt zu verschiedenen seelischen Verfassungen und Tonalitäten, die unterschiedliche Räumlichkeiten haben. Ich glaube es wird ganz wichtig sein, nicht nur den Immersions-Grad verwalten zu können, sondern auch zu bestimmen, wieviel Raum diese Verfassung einnehmen darf. Denn Verfassungen können uns auch auffressen. Es ist wie in orientalischen Märchen: Der Geist aus der Flasche, der groß und mächtig ist, kann irgendwann übermächtig werden. Dann ist es wichtig, ihn wieder in die Flasche zu verbannen oder ihn im übertragenen Sinne räumlich zu verkleinern. Es ist eine Herausforderung bei neuer Technologie, die Möglichkeiten der Selbstreferenzialität zu erkunden. 

Ströer: Technologische Errungenschaften haben uns in der Vergangenheit dazu in die Lage versetzt mehr Dinge zu managen, statt Dinge grundsätzlich zu reduzieren (E-Mail vs. Brief). Können Spatial Computer zu einer Belastung führen, indem der zusätzliche virtuelle Raum dazu führt, dass wir eine weitere Realität verwalten müssen? 

Stephan Grünewald: Ja, dieses Problem sehen wir derzeit ebenfalls. Das zusätzliche Angebot wird verschiedene Verfassungen verknappen. Wir werden weniger Zeit am Computer verbringen, der dann vielleicht auch zum Auslauf-Modell wird. Aber es wird vor allen Dingen die Medienzeit verknappen, die wir haben. Die Frage ist, gehe ich in die Netflix-Blase oder schaue ich mir mit der Vision Pro etwas an, das vielleicht viel stärker mit mir zusammenhängt. Es ist ein Grundproblem, dass das Unterhaltungs-Universum immer größer wird. Als ich groß geworden bin, da gab es 2 Programme und ab 23:30 Uhr Testbild ;) Heute ist es wie bei der Hydra: Der eine Kopf, den man abschlägt, gebiert gleich zwei neue. Es ist die große Herausforderung, diese mediale Welt zu organisieren. 

Die Leitlinie dabei ist im Moment die zunehmende Selbstbezüglichkeit und der Retro-Trend: Tauche ich nochmal in meine eigenen Urlaubs-Filme und recycle ich den Schatz meiner Erinnerungen? Das ist ein sehr interessanter Aspekt, da in der Vision Pro Kameras verbaut sind, mit denen ich eigene 3D-Aufnahmen machen kann, über die ich dann wieder in vergangene Momente eintauchen kann. 

Ströer: Wohingegen davon ausgegangen werden kann, dass externe Inhalte noch etwas Zeit brauchen werden, bis es wirklich ganze Filme, Internetseiten oder weitere Formate gibt, die an den 3D-Gedanken komplett angepasst sind. Währenddessen sind die eigenen Dinge, die man mit der Brille bereits erlebt, als erstes verfügbar. 

Stephan Grünewald: Es ist sozusagen die sinnliche Vermessung des eigenen Schnecken-Hauses. Das ist eine andere Form, die eigenen 4 Wände zu dekorieren, wenn ich so private Welten aufwerten kann. 

Ströer: Vielen Dank Stephan für deine Zeit und die psychologischen Einblicke. Wir freuen uns auf die weiteren Entwicklungen, werden diese aufmerksam beobachten und sicherlich demnächst wieder sprechen. Auf bald! 

Stephan Grünewald: Vielen Dank und bis bald.  

 

Bildquelle: apple.com