09. November 2022
Manchmal muss die Reise in die Vergangenheit gar nicht weit entfernt sein. „Ich habe Sehnsucht nach 2019.“ Dieser Aussage würden vermutlich viele zustimmen. Damals… Zurück in eine Zeit vor Corona, ohne europäischen Krieg, in eine Zeit des Wohlstands, der (gefühlten oder erlebten) Stabilität und Konstanz. In rauen Zeiten wie diesen sehnen sich viele in eine vermeintlich bessere Zeit, die Vergangenheit, zurück. Egal ob GenZ oder Babyboomer, egal ob 2019 oder 70er Jahre: Wir werden regelmäßig nostalgisch. Es tut unserer Seele gut. Ein Empfinden, das mal tröstet, mal glücklich macht. Doch warum leben wir so gern im „Gestern“? Aus Freude an der Erinnerung oder ist es eine Art Gegenwartsflucht? Ist und tut uns Nostalgie eigentlich gut oder bremst sie uns aus? Wir wollen dem – soziologischen und psychologischen – Phänomen Nostalgie auf den Grund gehen. Nicht um eine eindeutige, abschließende Meinung zu bilden, vielmehr, um zu verstehen, zu lernen und interessante Denkanstöße für die Zukunft hervorzubringen. Denn wir sind der Überzeugung: Der Blick zurück ist wichtig, um Zukunft, Innovationen und ihren Fortschritt beschleunigen zu können.
Im großen Brockhaus von 1955 galt Nostalgie als Heimweh. Erst 1971 folgte der Zusatz: „Auch: Sehnsucht nach Vergangenem“. Doch die Geschichte der Nostalgie reicht noch weiter zurück und macht vor allem deutlich, dass der Begriff im Laufe seiner 334 Jahre einige Bedeutungs-verschiebungen erfahren hat.
Bereits 1688 hatte der Schweizer Arzt Johannes Hofer den Begriff durch seine Dissertation geprägt. Er bezeichnete mit „Nostalgia“ – zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern nostos („Heimkehr“) und algos („Schmerz“) eine Nervenkrankheit, die Schweizer Söldner in der Fremde befiel und sie schwer krank werden ließ. Ein Schmerz, der empfunden wurde, weil man sich nicht im Vaterland befand und befürchtet hatte, dieses nie wieder sehen zu können. Symptome der vermeintlich zwanghaften Sehnsucht nach Heimat waren Weinkrämpfe, Schlaf- und Appetitlosigkeit sowie unregelmäßiger Herzschlag, der sogar tödlich enden konnte. In seiner Arbeit kam er zu dem Schluss, dass es sich dabei um eine Hirnerkrankung dämonischen Ursprungs handelte. Dämonen? So das Fazit seiner Beobachtungen des beunruhigenden Verhaltens. Seine These: Durch die Besessenheit einer zurückgelassenen Heimat war es Tiergeistern möglich, in die Gehirne der Söldner einzudringen und dort „Schaden anzurichten“. Heimweh war längst bekannt – auch Johannes Hofer, doch er stufte die „spezifisch schweizerische Krankheit“ als sehr gefährlich ein. Und kritisierte damit auch gleichzeitig, dass sie von der medizinischen Wissenschaft nicht systematisch erfasst worden ist. Schweizer Militärärzte widerlegten seine These später durch die Vermutung, dass „Nostalgia“ durch das unablässige Scheppern der Kuhglocken in den Alpen verursacht wurde, welches die Gehirnzellen und das Trommelfell der Soldaten schädigte und so die gefährlichen Symptome hervorrief.*
Womöglich sorgten die Klassifizierung – als tückisch geistige Erkrankung – und die daraus entstandene medizinische Fachdiskussion dafür, dass Nostalgie Eingang in die Literatur gefunden hat. Auch, wenn für den Rest des 17. und 18. Jahrhunderts Nostalgie als neurologisches Leiden betrachtet wurde und mit Heimweh gleichgesetzt wurde, entwickelten sich beide Begriffe auseinander. Auch deswegen, weil das Wort „Nostalgie“ nach etwa 200 Jahren nicht nur Heimat als Raum und Ort beschrieb, sondern den Faktor Zeit miteinfließen ließ. „Man sehnte sich nicht mehr nach einem Ort, sondern bezog sich mehr und mehr auf eine frühere Zeit“ sagt Historiker Tobias Becker.
Im 19. Jahrhundert ging die medizinische Wissenschaft dazu über, Nostalgie als eine Erkrankung der Psyche zu kategorisieren. Zu jener Zeit betrachtete die Medizin das Phänomen als psycho-pathologische Störung, eine Form von Depression und Melancholie.* Ärzte in den Vereinigten Staaten, in Zeiten der Strömungen der Einwandernden im 19. und 20. Jahrhundert, bezeichneten Nostalgie als „Einwanderpsychose“: Die Menschen aus der Ferne sehnten sich nach ihrer alten Heimat, während sie versuchten, sich in einem neuen, fremden Land ein Leben aufzubauen.*
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wandelte sich der Blick auf Nostalgie. Erfreulicherweise zum Positiven. Das Wichtigste: Die empirische Forschung konnte belegen, dass es bei der früheren Betrachtung und Einstufung von Nostalgie als Krankheit um theoretische Spekulationen und unwissenschaftliche Beobachtungen handelte.*
Vielmehr verstand man Nostalgie als Medizin. Jede/r kann von seinen nostalgischen Gedanken profitieren. Sie wecken Emotionen – meist positive – und aus diesen schöpfen wir Kraft. Nostalgie schenkt uns Freude und keine Traurigkeit. Sie ruft keine Depressionen wach, sondern ist in der Lage sie zu verhindern. Nostalgie lässt uns nicht verzweifeln, sondern schenkt uns Trost in schwierigen Zeiten. Nostalgie begleitet uns ein Leben lang.
Dies ist der Start einer mehrteiligen Blog-Serie rund um das Thema "Retro". Wir betrachten den Trend aus verschiedenen Blickwinkeln und wecken damit Erinnerungen aus der Vergangenheit und bieten Inspiration für die Zukunft.
* aus dem Buch Daniel Rettig „Die guten alten Zeiten“